Tuesday, November 8, 2016

There is no difference between wahhabism and Islam

Im Jahre 1802 attackiert ein Reiterheer unter dem Kommando eines gewissen Saud ibn Abd al-Aziz ibn Mohammed al-Saud die irakische Stadt Kerbala und schlitzt 4000 Menschen die Kehle auf. Die Heiligtümer der schiitischen Einwohner werden zerstört, ihre Häuser geplündert. Ein Jahr später erobert al-Saud Mekka und Medina. Und auch hier verwüsten seine Truppen alle angeblich «häretischen» Bauwerke, um die heiligen Stätten des Islam zu «reinigen». Den Eroberten wird verboten zu rauchen, zu musizieren, auffällige Kleidung zu tragen oder auch nur das Gebet zu vernachlässigen. Wer sich nicht daran hält, wird ausgepeitscht, verstümmelt oder hingerichtet. Es ist eine Herrschaft, die nicht von ungefähr an das Wüten des sogenannten «Islamischen Staates» (IS) zwei Jahrhunderte später erinnert. Willkommen im ersten auf Terror gebauten Staat der Saudi.
Im Jahr 2015 ist dieser Staat noch immer ein absolutistisch regiertes Königreich. Auf Raubzüge verzichtet es mittlerweile, stattdessen zählt es zu den 20 wichtigsten Volkswirtschaften der Welt. Es versorgt den Globus mit Erdöl und die Menschheit mit einem sehr speziellen Islam-Modell. Es beansprucht eine führende Rolle in der internationalen Diplomatie, lässt aber seine eigenen Bürger öffentlich mit dem Schwert hinrichten. Es bestraft Diebstahl mit dem Abhacken der rechten Hand, Ehebruch mit Steinigung und Homosexualität mit 7000 Peitschenhieben. Es zerstört noch immer kulturelles Erbe im eigenen Land, betrachtet Schiiten als Abtrünnige, verachtet Nichtmuslime und degradiert die Frauen zu Menschen zweiter Klasse. Es ist ein Staat, der westliche Technologien importiert, beeindruckende Glastürme baut und die Moderne sonst als Shopping-Erlebnis abhandelt. Willkommen im Saudiarabien des 21. Jahrhunderts.
Was hat sich an der religiösen Kultur dieses Landes seit der Verwüstung Kerbalas geändert? Nicht viel. Denn noch immer geben hier Prediger wie Abdallah al-Dosari den Ton an, der kürzlich den Tod von Hunderten schiitischer Pilger bei einer Massenpanik in Mekka als Gottesgeschenk bejubelte. Oder Autoritäten wie der saudische Grossmufti (also die höchste religiöse Instanz im Land) Abdelaziz bin Abdallah, der im März zur Zerstörung aller Kirchen auf der arabischen Halbinsel aufrief. Oder auch Geistliche, die gleich selber Hand an eine Haubitze anlegen, wie der Imam der Prophetenmoschee von Medina, Salah al-Budair, der im August die saudischen Truppen an der Grenze zu Jemen besuchte.
Eine liberale Reform des Islam mag vielleicht einmal von der islamischen Peripherie oder aus dem Westen kommen, doch bestimmt nicht aus Saudiarabien, das im Jahr 2015 mehr Menschen köpfte als der IS, seit Generationen eine extrem rückwärtsgewandte, intolerante und sektiererische Lesart des Glaubens konserviert und – schlimmer noch – diese in alle Welt exportiert.
Gemeinhin wird diese Doktrin als Wahhabismus bezeichnet. Seine Anhänger nennen sich selber die «Muwahhidun» (Unitarier). Sie berufen sich auf einen im 18. Jahrhundert lebenden Prediger namens Mohammed ibn Abd al-Wahhab. Dieser träumte davon, zu einem Ur-Islam zurückzukehren, wie er angeblich zu Zeiten des Propheten gelebt wurde, und forderte, die Religion von verfälschenden Einflüssen zu «reinigen». Schiiten, Sufis und alle anderen «Ketzer», die etwa Heilige verehrten oder zu Gräbern pilgerten, begingen in seinen Augen Verrat am Islam. Eine totale Unterwerfung gegenüber Gott, aber auch ein absoluter Gehorsam gegenüber einer politischen Autorität, die bereit war, die reine Lehre mit Waffengewalt in die Welt zu tragen, waren Abd al-Wahhabs Gebote. Wer sie anzweifelte, wurde rasch zum «Ungläubigen» erklärt. Diese Form der Exkommunizierung anderer Muslime – «Takfir» genannt – kam einem Todesurteil gleich. Ausgiebig machen heute radikale Islamisten von ihr Gebrauch, um den Mord an Glaubensbrüdern zu rechtfertigen.
Eine Art muslimischer Ku-Klux-Klan
Dass der Fanatiker Abd al-Wahhab keine Marginalie der Weltgeschichte blieb, sondern einer der Stifter Saudiarabiens wurde, ist dem Bündnis zu verdanken, das er 1744 mit dem ehrgeizigen Stammesführer Mohammed ibn Saud abschloss – ein Bündnis, das bis heute besteht. Es sah vor, dass der weltliche Führer dem geistlichen versprechen würde, das wahhabitische Gedankengut in seinem Herrschaftsgebiet durchzusetzen. Der geistliche Führer würde dem weltlichen dafür im Gegenzug religiöse Legitimität für seine Feldzüge verschaffen. Diese Dualität von Schwert und Islam wurde auf der heutigen Flagge Saudiarabiens verewigt; der Klerus sollte vom Königshaus nicht mehr zu trennen sein. Dass offene Kritik an dieser quasi gottesstaatlichen Allianz ein Delikt ist, das unter Terrorverdacht fallen kann, bekommen saudische Dissidenten wie der Blogger Raif Badawi heute am eigenen Leib zu spüren. Badawis «Gesetzesverstoss» – er hatte unter anderem eine Gleichbehandlung von Muslimen, Christen, Juden und Atheisten gefordert – ist der wahhabitischen Justiz zehn Jahre Haft und 1000 Stockhiebe wert.
Mit dem Erscheinen des IS, diesem anderen «Islamischen Staat» auf der Weltbühne, muss sich Saudiarabien nun wieder unangenehme Fragen gefallen lassen. Schon einmal, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, forderten Kritiker ein Umdenken im Königreich, das den institutionalisierten Hass auf alle nicht sunnitischen Muslime, auf die Juden oder auf den Westen schon Erstklässlern in die Schulbücher schreibt. Doch änderte sich nichts. Die weltweite wahhabitische Missionierung, finanziert vom saudischen Ölreichtum und befördert durch Moscheen und Prediger, Schulen und «Wohlfahrtsorganisationen», die auch Terrororganisationen unterstützen, wurde, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, munter weiterbetrieben.
Um sich die Folgen dieser unheiligen Verbindung von Petrodollars und radikalem Gedankengut klarzumachen, stelle man sich vor, der Ku-Klux-Klan habe in Texas die absolute Macht übernommen und missioniere nun mit den Ölgeldern, schrieb der renommierte Historiker Bernard Lewis. Und der algerische Schriftsteller Kamel Daoud mahnte: Durch die Macht der Satellitenschüsseln und des Internets habe sich das enge Weltbild der Ultrakonservativen bereits auf grosse Teile der islamischen Gesellschaften, vor allem auf ihre schwächsten Glieder, übertragen. Man müsse selber in der muslimischen Welt leben, um diese stetige Transformation zu begreifen. Dass dies der geistige Nährboden sei, auf dem auch der Extremismus gedeihe, sei offensichtlich. Nur die Mächtigen in Riad wollen das nicht wahrhaben. Sie sehen sich selbst als Opfer der Terroristen.
Eisernes Festhalten an archaischen Dogmen
Falsch ist das nicht: Der IS hat der saudischen Monarchie den Krieg erklärt, wie schon Ende der 1990er Jahre das Terrornetzwerk al-Kaida dem König den Krieg erklärte; wie schon 1979 ein Eiferer namens Juhaiman al-Utaibi die Grosse Moschee von Mekka mit 500 Bewaffneten besetzte; und wie schon in den 1920er Jahren eine Bewegung von Beduinenkämpfern, die sich die «Ikhwan» nannten, gegen den ersten König des modernen Saudiarabien rebellierten. Sie alle wurden im Geist Abd al-Wahhabs geschult, aber sie akzeptierten den Autoritätsanspruch der Dynastie al-Saud nicht länger. Mit dem Einbruch der Moderne in Gestalt von Bohrtürmen, Fernsehern, «ungläubigen» Gastarbeitern und schliesslich sogar der Präsenz amerikanischer Truppen auf saudischem Boden sahen sich die Wahhabiten bereits vor manchen Loyalitätskonflikt gestellt. Umso eiserner hält der Klerus heute an seinen archaischen Dogmen wie dem (weltweit einzigartigen) Fahrverbot für Frauen fest, und das Königshaus, das den Bogen der Reformen nicht überspannen will, lässt ihn gewähren.
Als Verbündeter der USA im Kampf gegen den IS will Saudiarabien die aufmüpfigen Kinder des Wahhabismus in die Schranken weisen. Kürzlich schmiedete Riad sogar eine Koalition aus 34 muslimischen Staaten «gegen den Terror» – wobei es völlig offenliess, wie diese Koalition operieren wird und wer eigentlich alles unter den Terrorbegriff fällt. Um sich vom IS theologisch abzugrenzen, behelfen sich saudische Geistliche zudem mit hilflos anmutenden Argumenten: Die Extremisten-Miliz, so ihr Diskurs, sei ein Nachfolger der frühislamischen Kharijiten (eine Sekte, die als besonders blutrünstig galt). Der in Saudiarabien praktizierte Islam sei dagegen für seine Reinheit und Friedfertigkeit bekannt. Würde den Klerikern die Ironie nicht auffallen, liesse sich fast hinzufügen: ein moderater Wahhabismus.

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