Wednesday, November 7, 2012

Wenn der Hass größer als die Angst vor Vergeltung ist


Könnte ein atomar bewaffneter Iran mit Drohungen gestoppt werden? Die Geschichte lehrt: Der nukleare Gegenschlag schreckt fanatische Staaten kaum ab. Der Westen hat das lange nicht verstanden.

Eine deaktivierte sowjetische SS-4 Mittelstreckenrakete mit einem atomaren Sprengkopf auf Kuba
Foto: REUTERSEine deaktivierte sowjetische SS-4 Mittelstreckenrakete mit einem atomaren Sprengkopf auf Kuba
Je länger die Agonie um Sein oder Nichtsein eines iranischen Nuklearwaffenprogramms andauert, desto öfter hört man die von offensichtlicher Resignation gekennzeichnete Meinung, der Sache doch ihren Lauf zu lassen – und einen nuklearen Iran letztendlich zu akzeptieren.
Beihilfe hierzu leisten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten, die mit Ausführungen zu einer allgemeingültigen Logik der nuklearen Abschreckung die Gewissheit risikofreien Zusammenlebens in einer multinuklearen Welt dekretieren.
Ihren Höhepunkt fand diese Sicht der Dinge in einem Aufsatz des amerikanischen Strategiewissenschaftlers Kenneth Waltz, der in der Juli/August-Ausgabe der Zeitschrift "Foreign Affairs" unter der Überschrift "Warum Iran die Bombe bekommen sollte" die Meinung vertrat, Nuklearwaffen führten immer und überall zu strategischer Stabilität.
Die weltweite Verbreitung dieser Waffen, so Waltz, sei daher unproblematisch, ja wünschenswert. In dieser neuen Welt seien große existenzielle Kriege unmöglich, die "kleinen" konventionellen Kriege müssten hingenommen werden.

"Universelle" Rationalität fehlt


Zwar gab es für Waltz’ Position nur wenig öffentlich geäußerte Zustimmung, dennoch muss man ihm dankbar für seine Ausführungen sein. Denn er hat eine Argumentation auf die Spitze getrieben – und damit ad absurdum geführt –, der all jene anhängen, die von einer immer und überall vorhandenen gleichartigen "Rationalität" aller für Nuklearwaffen Verantwortlichen ausgehen.
Doch eine "universelle" Rationalität gibt es nicht, auch nicht im nuklearen Zeitalter beziehungsweise im Verhältnis von Nuklearstaaten zueinander. Rationalität hängt ab von der national individuellen "strategischen Kultur", vom Werte- und Normensystem jedes einzelnen Staates.
Da Rationalität im Sinne der westlichen Werteskala aber eine Funktionsbedingung nuklearer Abschreckung ist, bedeutet die Tatsache, dass es alternative, davon abweichende "Rationalitäten" anderer Länder beziehungsweise Kulturen gibt, dass sie in den zentralen Bedingungen von Krieg und Frieden nicht zur Deckung gebracht werden können und daher auch keine Stabilität erzeugen.
Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass in der multinuklearen Welt nukleare Abschreckung nicht immer funktioniert und Kriege möglich sind. Mit anderen Worten: Nuklearwaffen haben das Risiko der Kriegführung zwar dramatisch erhöht – und die Welt insoweit sicherer gemacht –, sie haben den Krieg, auch den Nuklearkrieg, aber nicht unmöglich gemacht. Die Annahmen von Waltz über eine schöne neue Welt voller Nuklearwaffenstaaten sind daher ein gefährlicher Irrtum. Die Realität sieht schon jetzt anders aus.

Kuba-Krise zeigt Probleme

Als zentralen Beweis für seine These führen Waltz und viele Gleichgesinnte den Verlauf des Kalten Krieges an, in dem sich zwei nukleare Supermächte mit unterschiedlichsten weltpolitischen Ambitionen gegenübergestanden hätten. Die nukleare Abschreckung habe jeden Ausbruch in reale Kriegshandlungen verhindert.
Zweifellos sind der Kalte Krieg im Allgemeinen und die Kuba-Krise im Besonderen ein Beleg für das Funktionieren der nuklearen Abschreckung. Doch die Kuba-Krise erzählt noch eine andere Geschichte, die deutlich macht, dass nukleare Abschreckung nicht immer und überall gilt – das heißt, versagen kann.
Wie sich aus sowjetischen Unterlagen, die nach 1990 verfügbar wurden, ergibt, forderten während der Kuba-Krise, als die Sowjetunion unter anderem 64 nukleare Mittelstreckenraketen auf die Insel verlegt hatte, Fidel Castro und Che Guevara von Moskau, im Falle eines konventionellen Angriffs der USA einen "vorbeugenden Nuklearschlag" gegen das amerikanische Festland durchzuführen.
Castro damals: "Sollten die USA in einem brutalen Akt Kuba konventionell angreifen … wäre dies der Moment, um die Gefahr ein für alle Mal durch Ausübung legitimer Verteidigung zu eliminieren – unabhängig davon, wie hart und grausam diese Lösung sein wird". Chruschtschow hat über diese Forderung Castros später bemerkt, der Herr über Kuba habe wohl "nicht darüber nachgedacht, dass sein Vorschlag die Welt an den Rand des Untergangs gebracht hätte".

Bereit sich zu opfern

Oberst Viktor Semykin, der an den Gesprächen in Kuba teilnahm, beschreibt, dass die Kubaner bereit waren, alle Konsequenzen eines von kubanischem Territorium ausgehenden, mit sowjetischen Waffen geführten Nuklearschlages zu tragen.
Die Kubaner, so Semykin, "bestanden" auf dem sofortigen Einsatz der vor Ort verfügbaren nuklearen Waffen. Dabei ging es längst nicht mehr um die Reaktion auf einen amerikanischen Angriff, sondern nur noch darum, durch einen umfassenden nuklearen Erstschlag den USA größtmöglichen Schaden zuzufügen.
"Die Kubaner waren bereit, sich selbst zu opfern", so Semykin. Ihre Überzeugung war: "Kuba wird ausgelöscht, aber der Sozialismus wird siegen." Das entsprach exakt der mehrfach geäußerten Überzeugung von Che Guevara, der immer von einem derartigen "ultimativen Show-down" als dem "finalen Ziel des Kommunismus" geträumt und entsprechend agitiert hatte.
Che Guevara später: "Wären die Raketen in Kuba verblieben, hätten wir sie in unserem Kampf gegen die Aggressoren alle gegen das Herz der USA, New York eingeschlossen, eingesetzt".

Castro entschlossen zur Vernichtung

Der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan, der auch zur sowjetischen Delegation in Kuba gehörte, verfolgte die Diskussion um den Ersteinsatz der Raketen fassungslos. Mit allem ihm zur Verfügung stehenden Sarkasmus reagierte er auf Che Guevara schließlich: "Wir sehen eure Bereitschaft, einen heldenhaft schönen Tod zu sterben. Wir sind allerdings der Meinung, dass es keinen Grund gibt, einfach nur in Schönheit sterben zu wollen."
Castro selbst hat viele Jahre später dem früheren amerikanischen Verteidigungsminister McNamara bestätigt, dass er entschlossen gewesen sei, die Nuklearwaffen gegen die USA einzusetzen – wohl wissend, dass Kuba anschließend "völlig zerstört worden wäre".
Die Erkenntnis aus der Kuba-Krise von 1962 ist daher eine zweifache: Zum einen bestätigt sie das Funktionieren nuklearer Abschreckung bei Kontrahenten, deren den Begriff "Rationalität" definierende Grundeinstellungen identisch sind beziehungsweise weitgehend übereinstimmen.
Zum anderen erzwingt sie den Schluss, dass bei fanatisierten, von unbändigem Hass getriebenen Ideologen mit aktuellen Endzeitvisionen die nukleare Abschreckung offensichtlich nicht funktioniert. Die Erklärung für Letzteres liegt auf der Hand.

Gefährlicher Stolz

Wo in der Wertehierarchie von Personen, Gruppen oder Völkern die Lebenserhaltung von höheren Zielen überlagert wird, entsteht eine zumindest latente Bereitschaft zum Opfertod – die nukleare Zweitschlagsdrohung ist dann irrelevant.
Natürlich sind die besonderen Auffälligkeiten hemmungslos fanatisierter Ideologen kein für die Verhaltensforschung unbekanntes Terrain; im hier diskutierten Kontext kam es aber darauf an, zu zeigen, wie eine ideologisch verblendete Regierung die Auslöschung ihres gesamten Volkes aktiv betrieb.
Doch die fanatisierten Ideologen sind nicht die einzige Kategorie, die für ein System gegenseitiger nuklearer Abschreckung unerreichbar ist. Auch überdimensioniertes nationales Ehrgefühl kann westliche Rationalitätsvorstellungen außer Kraft setzen.
Das zeigte das Verhalten des japanischen Kriegsministers General Korechiki Anami, als er versuchte, nach den ersten nuklearen Bombenabwürfen die japanische Regierung von der Notwendigkeit der Fortsetzung des Krieges zu überzeugen. Anami rief zu "einer letzten großen Schlacht auf japanischem Territorium" auf – "wie es die nationale Ehre verlangt, die Ehre der Lebenden und Toten". "Wäre es nicht wunderbar", so Anami schließlich, "wenn die ganze japanische Nation wie eine schöne Blume zu Grunde gehen würde."
Dass die japanische Geschichte anders verlief, hing an einem seidenen Faden. Anami und seine überwiegend aus dem Militär stammenden Gesinnungsgenossen verloren nur knapp die innerjapanische Diskussion um die Fortsetzung des Krieges. Die USA aber brauchten Jahrzehnte, um zu begreifen, dass in manchen Regionen dieser Welt nationale Ehre über dem nationalen Überleben stehen kann – mit allen Folgen für ein System gegenseitiger nukleare Abschreckung, das beim Gegner westliche "Vernunft" voraussetzt.

Saddam Husseins Pläne

Außerhalb jeglicher nuklearer Rationalitätsstandards des Westens bewegte sich auch Saddam Hussein, der irakische Diktator. Von Anfang seiner Präsidentschaft an plante er einen erneuten Krieg der "arabischen Nation" gegen Israel.
Um diesen Krieg gegen das nuklear gerüstete Israel auf durchgängig konventionellem Niveau zu halten zu können, mussten die Atomwaffen Israels neutralisiert werden. Dazu hätte es eigener Nuklearwaffen bedurft. Da eine Eigenentwicklung zunächst nicht zur Verfügung stehen konnte, glaubte Saddam, dass "unsere sowjetischen Freunde" aushelfen würden.
Dabei schwebte Saddam kein umfangreiches, sich quantitativ am israelischen Gegner orientierendes Potenzial vor. Er wollte nur eine einzige Bombe. Angesichts der geografischen Gegebenheiten glaubte Saddam in den frühen achtziger Jahren, dass sich Israel durch die Androhung des Einsatzes auch nur eines einzigen nuklearen Gefechtskopfes vom Einsatz seiner Nuklearwaffen abschrecken lassen würde.

Atomwaffe auf dem Lastwagen

Ende der Achtzigerjahre ging Saddam noch einen Schritt weiter. Wie sein Schwiegersohn Kamel nach seiner Flucht berichtete, hatte Saddam die Absicht, die erste – selbst gebaute – Atomwaffe auf einen Lastwagen zu verladen und nach Kuwait bringen zu lassen.
Dort sollte sie zur Detonation gebracht werden. Saddams Kalkül: die Welt im allgemeinen, Amerikaner und Israelis in besonderen müssten zur Kenntnis nehmen, dass er nicht nur über Atomwaffen verfügte, sondern auch bereit sei, sie einzusetzen. Saddam glaubte, damit die Voraussetzung geschaffen zu haben, um gegen Israel einen "geduldigen Krieg", einen konventionellen Abnutzungskrieg führen zu können.
Viele Jahre waren Saddams militärische und nuklear strategische Überlegungen nichts weiter als bloßes Schwadronieren im engsten Beraterkreis. Mit dem Überfall auf Kuwait, den niemand im Westen für möglich gehalten hatte, zeigte sich, dass Saddam die Absicht hatte, seine Überlegungen zu realisieren.

Krieg gegen Kuwait

Was aber waren die Gründe für dieses waghalsige Unterfangen, mit dem sich Saddam gegen die nuklear und konventionell hochgerüsteten USA stellte? Zum einen sah Saddam für sein Land ohne Eroberung Kuwaits den ökologischen Kollaps voraus, zum anderen glaubte er nicht, dass die USA auf ein irakisches Fait accompli massiv militärisch reagieren würden.
Wie so viele andere arabische Politiker und Militärs dienten auch Saddam die amerikanischen Rückzüge aus Vietnam und dem Libanon (1983) als Beleg dafür, dass die USA nur noch begrenzt kriegsfähig seien und insbesondere lang dauernde und blutige Einsätze vermeiden würden. Übersteigerte Selbstsicherheit war die Folge.
Natürlich kalkulierte Saddam auch das Scheitern des Krieges gegen Kuwait ein. Kurz vor Kriegsbeginn gegen die von den USA geführte Koalition sagte er: "wenn wir merken, dass ihr (die USA) unseren Stolz verletzen und den Irakern die Chance eines hohen Lebensstandards nehmen wollt, dann wird alles andere gleichgültig und wir entscheiden uns, zu sterben. … Ohne Stolz ist das Leben nichts wert."
Das war das Rational eines "Kriegers", wie ihn einer seiner Generäle später beschrieb. Und weiter: "Sein Glaube ist der Krieg. Er kann ohne ihn nicht leben, denn nur er erzeugt Ruhm." Saddams Entscheidungsverhalten und seine persönliche Werteskala, so der General schließlich, seien "weit entfernt gewesen von westlichen Normen und Erwartungen".

Der "unmögliche" Krieg 1973

Ein weiterer Beleg für die Behauptung, dass sich Regierungen in Fragen des nationalen Überlebens nicht immer rational, das heißt "vernünftig" im Sinne westlicher Werte und Normen verhalten – und so auch nicht abschreckbar sind – ergibt sich mit seltener Eindeutigkeit aus dem Nahostkrieg von 1973 (Yom-Kippur-Krieg).
Schon die militärische Ausgangslage signalisierte eine Konstellation, die im westlichen Abschreckungsdenken unvorstellbar war: zwei nicht-nuklear gerüstete Staaten, Ägypten und Syrien, führten einen präemptiven konventionellen Überraschungsschlag gegen die Nuklearmacht Israel hinter der als Beschützer die USA als stärkste Nuklearmacht der Welt standen. Insoweit war dieser Krieg eigentlich ein "unmöglicher" Krieg.
Der Verlauf des Krieges verstärkte die strategischen Seltsamkeiten. Nachdem die Kämpfe der ersten drei Tage die israelische Armee an den Rand des Zusammenbruchs brachten, wurden die circa 20 vorhandenen Nuklearwaffen zwar einsatzbereit gemacht, zu weitergehenden Maßnahmen war die israelische Führung aber zu keinem Zeitpunkt bereit.
Im Gegenteil. Verteidigungsminister Moshe Dajan war in Panik und machte sich Gedanken über mögliche Kapitulationsbedingungen. Und Golda Meir dachte zeitweise an Selbstmord. Mit anderen Worten: die Nuklearmacht Israel stand am Rande einer konventionellen Niederlage, ohne ihre Nuklearwaffen – demonstrativ oder als Kriegsführungswaffen – in die Waagschale geworfen und damit die Kapitulation der Aggressoren erzwungen zu haben.

USA halfen mit Kriegsgerät

Dass es schließlich doch noch anders kam und Israel den Krieg siegreich beenden konnte, lag überwiegend an den massiven Materiallieferungen der USA. Henry Kissinger hat später das Besondere dieses Krieges auf den Punkt gebracht. Niemand in der amerikanischen Administration und bei den israelischen Geheimdiensten, so Kissinger, habe ernsthaft geglaubt, dass Ägypten und Syrien tatsächlich angreifen würden.
"Unsere Definition von Rationalität hat die Einsicht ausgeschlossen, dass die beiden arabischen Staaten einen nicht gewinnbaren Krieg zur Wiederherstellung ihrer Selbstachtung beginnen könnten. Wir hatten keine Sperre gegen unsere eigenen vorgefertigten Überzeugungen."
Die Kategorie des "selbstmörderischen Krieges", wie Nasser schon Jahre vorher den unabdingbaren nächsten Angriffskrieg der arabischen Staaten gegen das nuklear gerüstete Israel bezeichnet hatte, gab es in der strategischen Debatte der nuklear "aufgeklärten" Staaten des Westens einfach nicht.

Die Gefahr der Religion

Wie aber steht es um die Rationalität der Führung einer potenziellen Nuklearmacht Iran?
Die Beantwortung dieser Frage setzt die Erkenntnis voraus, die John Agresto, der ehemalige Präsident des Saint Johns College in New Mexiko, nach einschlägigen Erfahrungen im Irakkrieg vor einigen Jahren so formuliert hat: "Wir im Westen haben die Religion so kraftlos werden lassen, so weit marginalisiert, dass wir immer wieder ihre Grausamkeit und Stärke unterschätzen... Wir verstehen weder, dass man für Gott töten, noch dass man für ihn sterben kann. Andere aber tun genau das."
Die Regierung des Iran hat in der Nachfolge Khomeinis und seiner radikalen islamischen Revolution nie einen Zweifel daran gelassen, dass Allahs Gebote höher stehen als alles menschliche Leben.
Die irakische Invasion von 1980 kommentierte Khomeini diesbezüglich eindeutig: "Wir verehren nicht den Iran, wir verehren Allah. Denn Patriotismus ist nichts weiter als ein anderer Name für Heidentum. Ich sage, lasst dieses Land Iran brennen. Ich sage, lasst dieses Land in Rauch aufgehen – wenn nur der Islam im Rest der Welt triumphiert."
Das ist nichts anderes als die Bereitschaft zum kollektiven Martyrium, wenn die Stunde gekommen sein sollte. In vielen gegenwärtig noch genutzten Schulbüchern findet sich hierzu eine viel zitierte Aussage Khomeinis: "Entweder schütteln wir uns in der Freude über den Sieg des Islam in der Welt die Hand, oder wir wählen alle das ewige Leben und das Märtyrertum. In beiden Fällen gehört uns Sieg und Erfolg."

Die Lehre Khomeinis in den Schulbüchern

Dass hier nur Zitate von Khomeini verwendet werden, ist kein Zufall. Auch wenn der Urheber der iranischen Revolution und Gründer einer besonderen Form des radikalen Islam schon mehr als 20 Jahre tot ist, ist seine Popularität ungebrochen.
Alle im Gebrauch befindlichen Schulbücher sind nicht nur gespickt mit Khomeini-Zitaten, sie verkünden auch die reine Lehre des inzwischen gottgleich verehrten "Imam". Ihre besondere Dramatik erhalten diese Aussagen Khomeinis durch die insbesondere von Präsident Ahmadinedschad vielfach verbalisierte Ankündigung, die Wiederkehr des Verborgenen Imam stehe unmittelbar bevor.
Diesem Erscheinen vorausgehen soll nach schiitischer Lehre eine Zeit der Katastrophen und des Chaos – ein schiitisches Armageddon zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, an dessen Ende der wieder erschienene Imam die Bösen bestrafen und die Guten belohnen würde.

Das Erscheinen des Verborgenen Imam

Während allerdings für große Teile des schiitischen Islam der Verborgene Imam nur ein allgemeiner eschatologischer Glaubensinhalt ist, wird er von einer bestimmten Gruppe als aktuell und relevant angesehen. Wenn Ahmadinedschad daher nicht nur, wie die Mehrheit der Schiiten, das Erscheinen des Verborgenen Imam geduldig erwarten, sondern alle Voraussetzungen für sein Erscheinen durch eigenes Handeln unmittelbar schaffen will, dann heißt das nichts anderes, als dass der schiitische Gottesstaat Iran dieses Chaos auslösen müsste – und zwar bald.
Doch Ahmadinedschad ist in seiner Funktion als Präsident nicht der Herr über Krieg und Frieden. Letzteres ist der oberste religiöse Führer Ali Khamenei. Dieser gehört aber zur Mehrheit der Schiiten, die zwar an das Erscheinen des Verborgenen Imam glauben, damit aber keine konkrete zeitliche Vorstellung verbinden oder gar aktuelle Bezüge herstellen.
Was Khamenei wirklich denkt und glaubt, ist unerheblich. Er folgt den Festlegungen und Aufträgen seines großen Vorbilds und Mäzens Khomeini. Dieses Verhalten ist zumindest eine Lebensversicherung.
Was auch immer in den letzten 20 Jahren sich im Iran ereignet hat, das Erbe Khomeinis in Gestalt eines spezifischen radikalen Islams ist nie in Frage gestellt worden. Die Kritik an seinem Nachfolger Khamenei war daher auch nie substanziell. Mit anderen Worten: solange der von Khomeini als Nachfolger auserkorene Khamenei seine Worte und Taten auf Khomeini zurückführen kann, ist er ungefährdet.

Erziehung zum Märtyrertum

Auch wenn die messianisch-apokalyptische Variante des radikalen iranischen Islam gegenwärtig nur eine untergeordnete Rolle spielt, Khomeinis Vermächtnis einer Erziehung zum Märtyrertum, zum Hass auf Amerika und Israel und zur islamischen Weltrevolution bleibt eine Herausforderung für die gesamte zivilisierte Staatenwelt.
Dies umso mehr, als westliche Rationalitätsvorstellungen in ihr keine Entsprechung finden. Wenn es in einem iranischen Schulbuch für die achte Klasse heißt, dass "für diejenigen, die an das ewige Leben glauben, das Leben in dieser Welt keinen Wert an sich besitzt", dann hat das zur Folge, dass Abschreckung in diesem System seine Wirkung verliert.
Auch wenn es schwer fällt, es heißt Abschied zu nehmen von der Annahme, dass die Rationalität aller Nuklearmächte für alle Zeiten gesichert ist, dass nukleare Abschreckung niemals versagen kann, dass wir nuklear unsterblich sind.
Für die multinukleare Welt des 21. Jahrhunderts gilt, dass gegen "irrationale" Aggressoren nun einmal keine Zweitschlagsdrohung wirkt. Wozu ein Diktator fähig sein kann, wenn er sich als von der "Vorsehung" auserwählter Welteroberer versteht oder in die Enge getrieben, glaubt, sein Volk habe ihn nicht verdient, sollten gerade die Deutschen wissen.
Der Autor war von 1982 bis 1988 Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium.

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